Sonntag, 19. Januar 2014

ERÖRTERN SIE... !

In der Schule muss man viel erörtern, besonders in einer modernen Schule.
Das betrifft nicht nur den Sprachunterricht in der eigenen Muttersprache, in unserem Fall also Deutsch, sondern auch den Fremdsprachenunterricht sowie den Geschichts- und Sozialkundeunterricht.
Manchmal geht es noch darüber hinaus.
Man kann das gut oder schlecht finden, überlegen, ob es sich bei dieser Erörterungswut um blosses Gequatsche handelt (aktionslos und folgenlos) oder aber um strukturierte Argumentation. Man kann sich auch fragen, ob das rein handwerkliche Fremdsprachenlernen oder die Beschäftigung mit Naturwissenschaften nicht besser ist. Sei's drum!
Fakt ist nun einmal, dass viel erörtert wird, als mündliche Diskussion oder als schriftlicher Aufsatz.
Im universitären Bereich kann dieses Phänomen sogar noch krasser auftreten, besonders dann, wenn Dozenten ostentativ zeigen wollen, dass sie keine Faktenabfrager sind, sondern auf Nachdenken wertlegen. Es ist zwar akademisch gesehen durchaus sinnvoll, wenn man erkennt, dass sich Wissenschaft nicht nur mit Faktenlernen befassen kann und begnügen sollte, sondern auch darüber hinausgehen muss.
Doch Vorsicht: In der Lehr- und Prüfungspraxis wird damit urteilstechnischer Willkür Tür und Tor geöffnet!
Dieses wollen wir im Folgenden mit einer übergeordneten Leitfrage zeigen...


Beruhen diese (unsere) Erörterungen auf den richtigen erkenntnisphilosophischen Grundlagen?


Unserer Meinung nach fehlen den Erörterungen einige grundlegende Vorab-Überlegungen.


- Dialektischer Aufbau:

Viele Erörterungen sollen laut Aufgabensteller dialektisch verlaufen. Das heisst, man führt erst die Pro-Argumente (These) auf, dann die Contra-Argumente (Antithese) und schliesslich führt man die Erörterung auf eine Lösung in der Synthese zusammen.
(Ausgenommen wäre die "steigernde Erörterung", bei der nur eine Seite erörtert und dargestellt wird.)

In Wirklichkeit verlaufen solche Erkenntnisprozesse aber anders, nämlich genau umgekehrt!
Ein Mensch hat in den meisten Fällen eine vorgefasste Meinung, geht dann von dieser aus und sortiert alle Fakten in der von ihm gewollten Ordnung.
Die Gegenüberstellung von Pro und Contra dient also in Wirklichkeit nur der nachträglichen Rechtfertigung der eigenen Vor(ab)urteile. Sie erscheint als Selbst- und Fremdbetrug.
Gerade bei "Gesinnungsdebatten" wie Pro-Contra-Atomkraft, Pro-Contra-Abtreibung oder bei "Interessendebatten" von Lobbyisten wird es deutlich sichtbar, dass Menschen von ihrer vorgefassten Meinung niemals abrücken wollen und die Fakten nur benutzen, um sich rhetorisch aufzumunitionieren.

Ein weiteres Problem an diesem Schema ist, dass nicht jeder Streitfall in Pro und Contra aufgelöst werden kann. Es können "trialektische" oder vielfache (polytopische) Problemlagen existieren.


- Betrachtungsebenen:

Man muss sich weiter erst einmal überlegen, welche Ebenen man betrachten will. Das ist häufig ungeklärt.
Bei historischen Erörterungen verwendet man z. B. gerne politische, soziale und ökonomische Ebenen. Vielleicht auch eine geistige Ebene. Aber wer legt das fest?

Wie ist es z. B. mit der Kernfrage, ob eine metaphysische Ebene existiert?
Die Metaphysik-Frage ist ganz wesentlich und müsste zuerst geklärt werden, wird es aber oft nicht.
Bevor ich etwas erörtere, muss ich doch fragen, ob ich nur die "weltliche" Ebene betrachte, oder ob ich auch die metaphysische Ebene betrachte, wenn es die denn überhaupt gibt.
Es ist schon ein wichtiger Punkt, ob ich ein Geschichtsbild habe, nach dem die Geschichte einem göttlichen Heilsplan folgt oder nicht. Endet sie in einem Jüngsten Gericht endet oder nicht? Verläuft sie in einem ewigen Kreislauf oder nicht? Oder muss ich jede Frage nach einer Geschichtsteleologie offen lassen?

Man muss also vorher die gewählten Betrachtungsebenen festsetzen und begründen, warum man sie gesetzt hat.
Mögiche Betrachtungsebenen sind: politisch, sozial, ökonomisch, geistig, kulturell, religiös (?), technisch, biologisch und noch viele mehr.


- Subjektivismen:

Lehrer in Erörterungsfächern, die tolerant erscheinen wollen, sagen oft "Ihr könnt eure eigene Meinung sagen, sie muss nur begründet sein!"
Das ist meistens falsch. Zumindest in der Praxis.
Ein Lehrer wird immer seine eigene Meinung in den Vordergrund stellen und eine abweichenede Meinung einfach als "unbegründet" definieren und abqualifizieren. Denn was als begründet gilt, bestimmt die Autorität.
Schuld daran sind Subjektivismen, die auch dann vorkommen, wenn der Lehrer vorgibt, streng objektiv, rational oder kritisch-prüfend vorzugehen.
Subjektivismen können sein: Eitelkeit, Launenhaftigkeit, Frauenfeindlichkeit, Männerfeindlichkeit, übertriebene Lust am politischen Links-Rechts-Kampf, Nationalismus, Rassismus, religiöser Fanatismus, Nicht-Wissen (lat. ignorare; manchmal uneingestanden), Nicht-Wissen-Wollen (dt. ignorieren), Sturheit/Engstirnigkeit, traditionalistische Unflexibilität, Schwerhörigkeit usw.


- Zugehörigkeit zu ideologischen Grossräumen:

Ähnlich wie bei Subjektivismen wirken ideologische Grossraumzugehörigkeiten (Kulturraumzugehörigkeiten, Grossgruppenzugehörigkeiten) verzerrend auf die Urteilskraft. In diesem Fall haben wir es nur mit einer viel grösseren Betrachtungsebene zu tun.
Beispiele für solche ideologische Grossräume sind: Christlicher Raum, Islamischer Raum, Heidnischer Raum, Hinduistischer Raum, Faschistoider Raum (Faschismus, Falangismus, Nationalsozialismus, Kommunismus).
Hier müssen wir etwas weiter ausholen und erläuternde Beispiele aufführen.

Nehmen wir uns zuerst die politischen Ideologien vor: Wir haben in vielen Weltgegenden einschneidende Wechsel von Ideologien und Regimes gesehen, besonders stark im Kalten Krieg. Ein gutes Beispiel dafür  ist Deutschland selbst.

Im 20. Jhd. gab es in Deutschland (ungefähr) 5 verschiedene Regime. Es gab eine Monarchie, eine Republik, eine rechte Diktatur, zwei parallel existierende Republiken (die östliche davon eine unfreie kommunistische Diktatur, die westliche aber auch nicht ganz frei) und schliesslich eine Republik, die (wieder-)vereinigte Bundesrepublik Deutschland.
Das das so war, ist ein einfaches Faktenwissen. Aber ist man sich der Konsequenzen auf das Denken überhaupt bewusst?
Es gibt Menschen, die haben mehrere dieser Systeme durchlebt, einige sogar alle. Und es gab entsprechend Menschen, die sogar mehrere Systeme unterstützt haben, ohne mit der Wimper zu zucken. Zum Beispiel haben viele 1914 den Kriegsanfang und den Kaiser bejubelt, die dann 1918 mit roter Flagge umhergezogen sind.
Ein Einzelbeispiel dafür ist Manfred von Ardenne. Von Ardenne wurde 1907 im Kaiserreich geboren und ist in der "Weimarer Republik" (eigtl. Deutsches Reich) aufgewachsen, er interessierte sich früh für Naturwissenschaften und schuf bahnbrechende Arbeiten für die Elektrotechnik, in der Nazizeit entwickelte er dann die Rundfunktechnik weiter und möglicherweise auch an der Entwicklung von Uranwaffen. Nach der Kriegsniederlage und der deutschen Teilung entschied er sich anders als viele seiner Berufskollegen für die DDR und erhielt dort mehrere sozialistische/kommunistische Orden. Nach der Wiedervereinigung war er dann Bundesbürger und lebte noch einige Jahre bis er 1997 starb. Damit hat er 5 Regime passiert!
Das ist schon eine beeindruckende Flexibilität.
Man stelle sich nun einmal vor, man würde in der Bundesrepublik Deutschland in einer Abiturprüfung in Geschichte Hitler oder Stalin gut finden. Das würde einen ordentlichen Skandal geben! Zu Recht.
ABER: Es gab einmal auf deutschem Boden Systeme, die Hitler oder Stalin gut fanden und in denen man sogar erwartet hat, dass der Schüler einen der beiden Herren gut findet. Und in diesen Systemen waren auch Wissenschaftler in grosser Zahl zugegen und unterstützten den jeweiligen Diktator.
Was sagt und das jetzt über die "wissenschaftliche" Urteilsfähigkeit in Erörterungen?
Was wäre passiert, wenn Hitler oder Stalin in ganz Europa siegreich gewesen wären?
Man sieht: In vielen Fällen ist die Urteilsfähigkeit sehr volatil!
Würde man selber - wäre man einfach an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit geboren - einen bestimmten Mann oder eine bestimmte Vorgehensweise gut finden, die man jetzt schlecht findet?

Was aber sagt die Erkenntnis des Ideologieraumproblems über die Zugehörigkeit zu religiösen Ideologien aus, die ja bei den meisten Menschen nur dadurch gegeben ist, dass sie zufällig in einen ideologisch geprägten Grossraum geboren sind!? Wir haben weltweit einige religiös-ideologische Grossräume.

Was bedeutet denn ein Satz wie "Ich bin Christ!", der von manchen so gerne mit Inbrunst ausgesprochen wird. Es bedeutet doch nur, dass man die Tatsache, dass sich vor ca. 1700 Jahren christliche Truppen im Römischen Reich militärisch durchsetzten, nachdem das Reich schon vorher Instabilitäten aufwies, nicht richtig einordnen kann.
Es gab damals viele konkurrierende orientalische Religionen, von denen sich das Christentum eben zuerst gegen die regionalen Konkurrenten aus dem Osten und dann gegen das Heidentum im Römischen Reich durchgesetzt hat. Das beruhte kaum auf den besseren Argumenten oder überlegener Erkenntnis, sondern im Kern 1. auf Zufall und 2. auf militärischer Überlegenheit, die selbst eine Mischung aus Können und Zufall war und möglicherweise 3. darauf, dass Christus, den wir historisch kaum fassen können, ein charismatischer Führer war.
Hätte sich eine konkurrierende Ideologie durchgesetzt, würden viele Menschen eben dieser folgen.
Ähnlich verhält es sich mit dem Islam, dessen Sieg im Kern darauf beruhte, dass 1. nordafrikanische und arabische Gebiete (zufällig) durch Missernten geschwächt waren, 2. Mohammed ein charismatischer Führer war und 3. einige Schlachten glücklich gewonnen wurden.

Überall lauern also Gefahren (Gefährdungen) der objektiven Erkenntnis und Urteilsfähigkeit, denen sich die meisten Menschen nicht bewusst sind. Das schlägt sich dann auch in Erörterungen nieder.

Um es klar zu sagen: Wenn ein Mensch nicht bereit ist, zu erkennen, dass er ohne freie Wahl in einen ideologischen Grossraum geboren wurde (der seine Erkenntnis verzerren kann) denn fehlt ihm die kritische Distanz (nicht aufgebaut) und er ist nicht urteilsfähig!


- Umsetzung und Folgen:

Ein weiteres Problem der Erörterung (Erörterei) ist die Frage nach den Konsequenzen. Das hängt zwar nicht direkt mit der Erörterung zusammen, ist aber wichtig. Sicher kann man auch erörtern, ohne sich anschliessende Handlungen zu diskutieren. Aber die Frage nach Nutzen und Konsequenzen drängt sich meistens auf.

In der Realität ist es doch an Bildungsinstitutionen so, dass einfach viel erörtert wird, also "viel Tinte verfliesst" (modern auch Druckerschwärze oder Energie), wie die Angelsachsen sagen, ohne dass etwas passiert. Die gewonnenen oder vermeintlich gewonnenen Erkenntnisse haben meistens keine Konsequenzen. Das mit der Erörterung bedruckte Papier (oder die Datei) wird manchmal benotet, verschwindet aber so oder so in den meisten Fällen, indem es entweder direkt vernichtet wird oder in einem Wust von Ausschussmaterial untergeht.
Moralische Handlungsänderungen oder technisch-administrative Verbesserungen gibt es keine.




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